Unsere Geschichte handelt von einer Legende, die die Naturvölker Südamerikas erzählen - die Legende eines kleinen Kolibri, der einst im großen Regenwald lebte.
Eines Tages brach im Wald ein großes Feuer aus und alle Tiere rannten in Panik davon, denn das Feuer war riesig und furchterregend. Unaufhaltsam fraß es sich durch das Unterholz und zerstörte alles, was auf seinem Weg lag.
Der sonst so tapfere Jaguar ergriff in Panik die Flucht. Der Tapir schlich davon, um ein sicheres Versteck zu suchen. Die Schildkröte zog sich in ihren Panzer zurück und der Adler erhob sich weit in die Höhe und entkam so als Erster den Flammen.
Plötzlich sah der Jaguar über sich den Kolibri hinwegfliegen. Doch er flog in die entgegengesetzte Richtung - auf das Feuer zu. Das verwirrte den Jaguar sehr, aber er zögerte nicht und rannte weiter. Kurz darauf sah er den Kolibri wieder vorbeifliegen, diesmal in dieselbe Richtung wie er. Dies geschah mehrmals. Er beschloss, den kleinen Vogel zu fragen, was er da tue, denn sein Verhalten schien höchst eigenartig:
"Was machst du, Kolibri?", fragte er den kleinen Vogel.
"Ich fliege zu der kleinen Wasserstelle", antwortete dieser, "ich nehme Wasser in meinen Schnabel und gieße es auf das Feuer.”
"Wieso?", fragte der Jaguar.
"Natürlich, um den Brand zu löschen", antwortete der Kolibri.
"Du bist verrückt", sagte der Jaguar entgeistert. "Glaubst du, du kannst das Feuer mit deinem winzigen Schnabel alleine löschen?"
"Nein", antwortete der Kolibri, "ich weiß, dass ich das allein nicht kann, aber ich muss meinen Teil dazu beitragen."
Der Jaguar hielt noch einen Moment verwirrt inne und sah dem kleinen Vogel dabei zu, wie dieser unermüdlich Wasser aus einer kleinen Pfütze in seinen Schnabel aufnahm, es zu dem immer näher kommenden Feuer brachte und es über diesem ausgoß.
Mutiges kleines Ding, dachte er. Dann schüttelte er den Kopf und rannte so schnell er konnte, vor dem sich hinter ihm ausbreitenden Feuer davon.
Plötzlich kam ihm der Tapir entgegen.
“Wo willst du denn hin?”, fragte der Jaguar den Tapir. “Das ist die falsche Richtung.”
Der Tapir starrte den Jaguar mit weit aufgerissenen Augen an.
“In dieser Richtung liegt eine große Schlucht, da geht es nicht weiter.”
Der Jaguar hatte noch gar nicht recht verstanden, was der Tapir gerade gesagt hatte, da durchbrach der Kaiman in panischer Flucht das Unterholz und hätte den Jaguar beinahe umgerannt, wenn dieser nicht sofort zur Seite gesprungen wäre.
“Bleib’ stehen!”, rief der Jaguar. “Du wirst in die Schlucht stürzen.”
Wie vom Blitz getroffen blieb der Kaiman stehen. Der Jaguar hatte recht, wenn Sie in diese Richtung weiter rannten, würden sie alle in den Tod stürzen. Ein neuerliches Krachen setzte ein und das Wasserschwein stürzte in wilder Flucht hinter einem Busch hervor - geradewegs auf die Gruppe zu. Wieder wäre der Jaguar fast umgerannt worden, wieder sprang er zur Seite und wieder musste er laut die Warnung vor der Schlucht ausrufen. Zum Glück hörte das Wasserschwein die Warnung des Jaguars rechtzeitig. Vor Erschöpfung laut schnaufend blieb es neben den anderen Tieren stehen.
Nun kamen auch die Anaconda und die Frösche herbei. Die Tiere des Waldes hatten sich wie zufällig alle hier versammelt. Ein jeder war für sich vor dem Feuer auf der Flucht gewesen, doch nun mussten sie einsehen, dass sie allesamt unfähig waren, den tosenden Flammen zu entkommen.
Panik brach aus unter den Tieren des Waldes, dann ein Streit. Niemand wusste recht, was zu tun sei. Der Adler wäre ja fein raus, meinte der Kaiman. Der brauche nur seine Flügel aufzuspannen und schon sei er in Sicherheit. Er könne ja auch einen jeden einzelnen von ihnen nach und nach über die Schlucht tragen, meinte die Anaconda. “Niemals”, fauchte der Jaguar. Der Adler würde ihn doch glatt aus Bosheit über der Schlucht fallen lassen. Der Adler müsse den Jaguar doch gar nicht über die Schlucht tragen, warf das Wasserschwein neidisch ein. Der könnte diese doch einfach überspringen.
Der Jaguar funkelte finster mit den Augen und die Flammen des sich nähernden Feuers spiegelte sich bedrohlich in seinen Pupillen wider. “Selbst ich kann die Schlucht nicht überspringen, die ist viel zu breit.” Und beinahe hätte der Jaguar das Wasserschwein voller Zorn niedergestreckt, da huschte der kleine Kolibri wieder an ihm vorbei. Mit surrenden Flügeln schwirrte der winzige Vogel vor dem Jaguar hin und her. Dann huschte er zum Wasserschwein, zum Kaiman und schließlich zur Anaconda. Alle Tiere verstummten und starrten dem blauen Winzling hinterher, als dieser wieder seine Tätigkeit aufnahm, das Feuer zu löschen. Er huschte zur kleinen Pfütze, nahm Wasser in seinen schmalen Schnabel, sauste zurück zu der sich nähernden Feuerwalze und goss winzig kleine Tröpfchen in die tosenden Flammen.
“Das schafft der nie,” sagte das Wasserschwein mitleidig.
“Nein”, sagte der Jaguar. “Aber er leistet seinen Anteil.”
“Ich werde einen Graben schaufeln, dann kann sich das Feuer nicht weiter ausbreiten”, sagte das Wasserschwein.
“Ich helfe dir”, sagte der Kaiman.
“Ich weiss, wo es eine größere Wasserstelle gibt", sagte die Anaconda.
“Wir werden dir helfen, das Wasser herbeizuschaffen”, sagten die Frösche. “Wir können das Feuer auch nicht löschen, aber vielleicht können wir es so lange aufhalten, bis der Graben fertig ist.”
Und so schwärmten die Tiere des Waldes aus, gruben einen Graben, suchten und fanden Wasser und mit vereinten Kräften gelang es Ihnen, die Flammen so lange zurückzuhalten, bis der Graben fertiggestellt war und sich die Feuersbrunst nicht weiter ausbreiten konnte.
Das Feuer brannte noch eine ganze Weile, doch konnte es die Tiere des Waldes nicht mehr erreichen. Nach einigen Stunden setzte dann endlich starker Regen ein und dieser begann schließlich das Feuer zu löschen.
Müde und erschöpft saßen die Tiere des Waldes beisammen und sahen zu, wie die Flammen langsam von dem prasselnden Regen erstickt wurden.
Da kam der kleine Kolibri herbei und setzte sich vor dem Jaguar auf den regennassen Boden. Der Jaguar streckte seine große Tatze aus und hielt sie über den kleinen Kolibri, um diesen vor den herabfallenden Regentropfen zu schützen.
Der Jaguar lächelte leise. Nein, dachte er, der kleine Vogel hätte das Feuer nicht löschen können, und dennoch hatte er sie alle vor den tosenden Flammen gerettet.
So endete die Geschichte des Kolibris, der durch seine Hingabe und die Tiere des Waldes dazu inspirierte, gemeinsam für ihre Heimat einzustehen. Der Wald erholte sich, und die Tiere lebten in Frieden und Harmonie miteinander, denn sie hatten gelernt, dass sie gemeinsam alles erreichen konnten.